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Von Roman Horschig

Vereinschroniken

Vereinschroniken – Zahlen und Daten früherer Zeiten mit Leben füllen

| Im Fußball-Sprech ist immer wieder von Traditionsvereinen die Rede. Damit sind Clubs mit einer großen Geschichte gemeint, die diese hegen, pflegen und stetig weiterentwickeln. Denn Tradition bezeichnet nichts anderes als die Weitergabe von Überzeugungen, Vorstellungen und Werten innerhalb einer Gruppe oder auch zwischen Generationen. Sie sorgt für Stabilität und Identität in einer sich schnell drehenden Welt – so eben auch im geliebten Fußball, wo das Gemeinschaftsgefühl stark im Mittelpunkt steht. Eine Möglichkeit für jeden Sportverein, sich seiner Tradition zu widmen und diese für die Nachwelt zu erhalten, ist eine fundierte Vereinschronik. Ein Werk über die eigene Historie, gespickt mit Informationen, Anekdoten und Erinnerungen. Langlebig und eindrucksvoll.

Den Wert eines solchen Werks sieht auch Oliver Braun vom TV Aldingen. Auf sich gestellt und zu Beginn aus purem Eigeninteresse – er studierte zwischen 1996 und 1998 Geschichte – stürzte sich der Abteilungsleiter Fußball während der Coronazeit in das Thema Vereinschronik. Sein Ziel: ein Buch mit rund 1000 Seiten Material zu seinem Herzensverein. Eine ambitionierte Vision, die er mit Nachdruck verfolgt. Er führt viele Interviews und verbringt unzählige Stunden in den Stadtarchiven von Remseck und Ludwigsburg, um die Gemeindeblätter bzw. die Ausgaben der «Ludwigsburger Kreiszeitung» zu sichten. In akribischer Arbeit durchforstet er Mikrofilme und sammelt Informationen. Dabei kommen spannende Funde zutage, etwa ein versiegelter Umschlag von 1951. Der Inhalt: Vorschläge zur Namensgebung der lokalen Sportanlage, die in der Folge «Jahnplatz» getauft wurde. Braun ist während seiner Arbeit immer wieder beeindruckt und sagt mit leichter Ehrfurcht: «Ich will allen ehemaligen Leitern und Vereinsmitarbeitern ein würdiges Denkmal setzen.» 

Seine Chronik wird groß werden und hebt sich auch deshalb von den anderen Werken ab, weil der 48-Jährige die Geschichte des Ortes und die dortige Entwicklung geschickt in sein Buch einwebt. Seit weit über 1000 Stunden sitzt er mittlerweile am Projekt, Ziel ist eine Fertigstellung zum 90-jährigen Bestehen der Fußballabteilung 2029. «Es ist etwas Bleibendes», sagt er schon jetzt nicht ohne Stolz. Spannend sind auch historische Überschneidungen und Gemeinsamkeiten. So hatten die Vorstandsreden Ende der 40er-, 70er- und 90er-Jahre alle denselben Tenor: Früher war alles besser, der Verein hat nicht mehr so den Stellenwert und es engagieren sich zu wenige Menschen ehrenamtlich! Brauns Fazit: Auch das heutige Vereinsleben wird irgendwann als die gute alte Zeit angesehen werden. Und dieses mit einer Chronik zu dokumentieren, inspiriert und beflügelt ungemein!


Blickpunkt zukünftige Chroniken: Eine gute Schriftführung lohnt sich immer!

Prof. Mike Barth von den Sportfreunden Dobel blickt nach der Erstellung der Chronik seines Vereins zurück: «Es gab immer Herausforderungen und auch immer tolle Zeiten», lautet eines der Fazits des 2. Vorstands. Der schönste Moment: vielleicht das Gastspiel von Galatasaray Istanbul zur Einweihung des Kunstrasenplatzes 1985. Nur eine von vielen Anekdoten in der Chronik zum 75-jährigen Vereinsjubiläum 2023. Dabei griff er auch auf die Festschriften der vorherigen Jubiläen zurück und profitierte ebenso von den regelmäßigen Spieltagsheften und Jahrbüchern des Vereins. Unabhängig von einer Chronik lohnt sich immer eine gute Schriftführung im Verein. 

Auch Gespräche mit den Altvorderen und Besuche in den örtlichen Archiven waren Teil der spannenden rund achtmonatigen Arbeit. Am Ende wurde die Chronik Teil eines Festbuchs zum Jubiläum. «Jede Generation denkt, sie hat die größten Probleme», sagt Barth schmunzelnd, als er auf die Erkenntnisse seiner Arbeit angesprochen wird. Spannend waren u. a. die alten Kassenbücher, in denen sehr penibel gearbeitet wurde. Selbst fünf Pfennig für die telefonische Durchgabe eines Ergebnisses wurden notiert. 

Zum Vergleich gestern und heute sagt Barth: «Früher haben sich die Leute im Verein außerhalb des Trainings noch öfter gesehen. Gefühlt war es deutlich geselliger. Heute haben wir dafür ganz andere Möglichkeiten, den Verein professionell zu managen. Auch die Ausbildung von Trainern und Vereinsfunktionären ist viel fundierter geworden». Barths Erkenntnis: Für jeden gibt es aus einer Historie viel zu lernen. Damit sie aber auch von Jung und Alt gelesen wird, beginnt seine Chronik leicht vor der Vereinsgründung und ist vor allem nicht nur eine Aufzählung historischer Fakten, sondern auch ein Mix aus vielen persönlichen Erlebnissen.


Mit Mitgliedern sprechen und Geschichten erfahren

Als Nächstes blicken wir zur Sportvereinigung aus Weil. Hier hat Vereinsvorstand Achim Marquardt mit zwei Kumpeln die Vergangenheit unter die Lupe genommen und das Ganze in Form einer Ausstellung wieder auf Hochglanz gebracht. 23 mannshohe Papp-Zylinder wurden in der Sporthalle mit Geschichten, Bildern und Informationen bestückt, und die Besucher hatten die Möglichkeit, sich in einer Art Slalomparcours durch die Litfaßsäulen mit der Historie des Vereins auseinanderzusetzen. Bis 1968 hatte Weil zwei Vereine, sodass auch eine alte Rivalität auf charmante Art und Weise neu belebt wurde. In Erinnerung sind Marquardt vor allem seine Gespräche mit den alten Haudegen geblieben. «Ein 85-Jähriger hat mir in seiner Küche noch mal sein Tor zum Aufstieg nachgespielt, ich hatte schon Angst, der kippt um», sagt der ehemalige erste Vorsitzende des Vereins schmunzelnd. Die alten Leute sind in den Gesprächen alle extrem aufgelebt, haben absolute Wertschätzung gespürt und die Zahlen von damals wieder mit Leben gefüllt. 

Die Vereinschronik von Weil gibt es auch als Buch mit dem Titel «100 Jahre Fußballgeschichte». Sie besteht aus einer chronologischen Aufarbeitung der umfangreichen Historie beider Vereine mit Texten, Bildern, Geschichten und auch Interviews. Als Quellen dienten neben den Gesprächen auch das Gemeindearchiv und das archivierte Material der Südwestpresse. «Unser Buch erzählt eine spannende Geschichte von Rivalität und Freundschaft», erklärt Marquardt mit Nachdruck. Um diese richtig zu erzählen, sei es jedoch unabdingbar, mit Durchhaltevermögen akribisch zu recherchieren.


Sensibilisierung des Umfelds

Eine große Wirkung im Verein durch seine Chronik spürte auch Benjamin Finis vom 1. FC Egenhausen. Der erste Vorsitzende wollte seinen Verein zum 100-jährigen Bestehen 2021 entsprechend würdigen, und das unabhängig davon, dass die große Party wegen Corona ausgefallen war. «Wesentlich ist, die Leute im Ort für das Projekt zu sensibilisieren. Das habe ich immer wieder gemacht und so kam von vielen Seiten große Unterstützung», sagt Finis. Solch ein öffentlicher Aufruf ist tatsächlich jedem, der eine Chronik in die Tat umsetzen möchte, zu empfehlen. Denn in vielen Kellern und Dachböden schlummern noch alte Schätze. 

Die Chronik der Egenhausener Kicker – als Sonderausgabe der Vereinszeitung – hat er in Dekaden strukturiert und immer wieder kompakte Interviews mit Zeitzeugen platziert. «Ich kann nur jeden Verein ermutigen, eine Chronik zu erstellen, es lohnt sich absolut, und es ist ein gutes Gefühl, Menschen und deren Lebensleistung mit solch einem Werk zu würdigen», sagt der hauptberufliche Bürgermeister der rund 15 km entfernten Gemeinde Mötzingen – der Geist seines Clubs wurde in jedem Fall belebt. Im Zeitvergleich hebt er vor allem eine Sache hervor: «Heute ist es teilweise schwierig, Menschen für einen Tageseinsatz für den Verein zu motivieren. Früher haben zeitweise zwei Personen gemeinsam das Vereinsheim ehrenamtlich bewirtet.» 


Systematisch zweifeln

Den großen Wert einer chronologischen Aufarbeitung sieht auch Historiker Uwe Schellinger: «Ein Blick in die Archive lohnt sich immer.» Nebenberuflich arbeitet Schellinger als Vereinsarchivar des SC Freiburg, privat forschte er für seinen Heimatverein SC Friesenheim. Aus seiner Sicht kann der Kontakt zu anderen Institutionen und in andere gesellschaft­liche Bereiche sehr aufschlussreich sein. «Beim Bau eines Vereinsheims wurde vielleicht das Bauamt kontaktiert oder bei einer Prügelei auf dem Sportplatz die Polizei …» Auf diesem Weg kann jeder an wertvolle Informationen kommen – über das hinaus, was man vielleicht in den Archiven der Gemeinde findet. Im Staatsarchiv Freiburg sind beispielsweise SBFV-Vereinsakten gelagert, die neben sportgerichtlichen Daten vergangener Jahrzehnte auch schon mal Hinweise beinhalten, die ein Gefühl für das Leben damals geben, beispielsweise wenn Auslandsreisen hinter den eisernen Vorhang unternommen wurden. Auch Amtsgerichte seien eine wichtige Quelle: Da Vereine hier immer die neueste Fassung ihrer Satzung hinterlegen müssen, lässt sich anhand von Protokollen die Entwicklung eines Clubs erkennen – und manchmal auch eine korrekte Zeitangabe. «Nicht jedes Gründungsdatum stimmt und oft werden Zahlen ungeprüft von Festschrift zu Festschrift einfach abgeschrieben», so Schellinger. «Man findet beispielsweise etliche Online-Quellen, die als Eröffnungsjahr des Dreisamstadions 1954 angeben – tatsächlich war das aber ein Jahr später …»

In einer Chronik sieht der Historiker einen großen Beitrag über den Fußball hinaus. «Fußballvereine sind Teil der Kultur und sollten ihre Vereinsgeschichte pflegen.» Klare Worte, die den Kern treffen. Eine Chronik hat nicht nur dokumentarischen Wert, sondern sie berührt emotional. Ältere Vertreter werden an ihre großen Zeiten erinnert und die heutige Generation kann wertvolle Schlüsse aus der Vergangenheit ziehen. Ein Werk, das für immer bleibt, die eigene Tradition ehrt und Mut für die Zukunft macht. | Roman Horschig