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Interview mit Physiotherapeut Wolfgang Bunz

Hidden Champion mit heilenden Händen

Heiner Baumeister und Fabian Diehr im Gespräch mit Wolfgang Bunz | Wir treffen Wolfgang Bunz in seiner Praxis in Ulm zum Gespräch. Obwohl der Physiotherapeut über mehr als zweieinhalb Jahrzehnte die Waden der deutschen Fußballidole in den Händen hielt, stand er mit seiner Tätigkeit für die DFB-Elf nie gern im Rampenlicht. Der 67-Jährige sieht sich weniger als Heiler, sondern vielmehr als Handwerker, der den Körpern der Spitzensportler, aber auch denen seiner Patienten dabei hilft, sich selbst zu heilen.

Herr Bunz, Sie haben nach über 300 Spielen und 26 Jahren das DFB-Team verlassen. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge?
Wenn man etwas so lange macht, muss man sich irgendwann Gedanken machen, wie man aufhört. Man bewegt sich da unter vielen jungen Menschen, wird aber selbst immer älter.

Als Sie angefangen haben, waren Sie noch in einem ähnlichen Alter wie die Spieler.
Ja, ich war Ende dreißig. Lothar war damals mit Jahrgang 1961 der älteste Spieler und drei Jahre jünger als ich. Das war ein ganz anderes Verhältnis zueinander …

Umgekehrt könnte aber auch mancher junge Spieler sagen, «toll, dass wir einen Physiotherapeuten haben, der echt Erfahrung hat».
Ich will niemandem zu nahe treten und mir auch nicht ins eigene Fleisch schneiden, muss aber ehrlich sagen, dass man in diesem Geschäft kein Über-Therapeut sein muss. Wenn man etwas Ahnung vom Sport hat, gekoppelt mit einer guten Ausbildung, Erfahrung, Idealismus und Freude, kann man wirklich gute Arbeit leisten. Denn die Behand­lungen in diesem Setting am Spielfeld sind zumeist unkompliziert. Wenn jemand eine struktu­relle Ver­letzung wie einen Faser- oder Bänderriss hat, dann ist es erst einmal vorbei. Dann muss der Spieler den Weg einer langfristigen Behandlung gehen. Aber ein schnell reversibles Problem, wie eine Zerrung oder eine kleine Blockade oder andere funktionelle Störungen, die für einen oder zwei Tage Probleme machen, kriegt man zumeist schnell wieder in den Griff. Damit hat man automatisch eine ganz andere Klientel. Zurück hier in der Praxis verändern sich dann die Herausforderungen, wenn wir versuchen, über Wochen oder Monate einen Patienten wieder auf die Füße zu stellen.

Sie äußern sich zu Ihrer Rolle in der Nationalmannschaft stets sehr zurückhaltend. «Spieler zum Funktionieren zu bringen ist unsere Aufgabe, das Heilen macht der Körper allein», ist eine Ihrer Aussagen …
Ja, das ist prinzipiell so. Deswegen wäre es falsch zu sagen, dass ich etwas mache, das die Verletzung verschwinden lässt. Aus solchen Aussagen kann man zwar ein Geschäftsmodell machen, aber das wäre nicht ehrlich.

Gibt es trotzdem irgendetwas, was Sie als Physio­therapeut besonders gut können?
Schwer zu sagen. Aber ich habe große Hände, und das ist in meinem Beruf praktisch, da ich nun mal mit den Händen arbeite und immer in Kontakt mit dem Patienten bin. Vielleicht habe ich hier den Vorteil, dass ich mich mit verschiedenen Techniken leichter tue.

Haben Sie Erfolgsmomente im Sinn, von denen Sie berichten können?
Die allermeisten Behandlungen sind kleine Erfolge, wenn durch unsere Therapieansätze Schmerzen gelindert werden. In den unplanbaren Situationen, z. B. bei einem Spiel, macht man aber auch Dinge, von denen man nicht immer weiß, ob sie helfen. Wenn in der Halbzeit ein Spieler sein Knie nicht mehr strecken kann, ist die Situation zwar hektisch, trotzdem muss man aber einen klaren Kopf behalten, überlegen, was die Ursache sein könnte und was man mit dem Spieler macht. Stelle ich einen verschobenen Meniskus fest, gibt es Techniken, mit denen man den vorherigen Zustand wiederherstellen, das quasi reparieren kann. Manchmal gelingt das und manchmal nicht.

Wie ist denn das Zusammenspiel zwischen Mannschaftsarzt und Physiotherapeut? Kommt man sich da auch mal in die Quere?
Nein, gar nicht. Kommt ein Spieler zu mir, schaue ich mir sein Sprunggelenk, seinen Rücken oder was auch immer an und unternehme etwas. Dann habe ich vielleicht schnell eine Diagnose und einen Erfolg, sage aber zum Doc, dass er sich die Verletzung ebenfalls anschauen soll. Das ist bei einer A-Mannschaft Pflicht. Und diese Schnittstelle funktioniert ganz selbstverständlich, wenn man sich zugetan ist – so wie ich es u. a. mit den Teamärzten Dr. Müller-Wohlfahrt und auch, die letzten Jahre, mit Dr. Jochen Hahne und Dr. Sepp Schmitt immer erlebt habe. Die Docs haben dem Physio-Team stets sehr viel Vertrauen geschenkt, weil sie wussten, welche funktionellen Denkweisen und therapeutischen Fähigkeiten wir haben.

Wenn Sie zurückschauen, hat sich in den 26 Jahren, in denen Sie dabei waren, am Anforderungsprofil des Physiotherapeuten im Profifußball etwas geändert?
Sehr viel. Als ich 1998 angefangen habe, gab es noch Spieler, die nicht endgültig durchtrainiert waren oder aus dem Urlaub mit dem einen oder anderen Kilo zu viel zurückkamen. Die Professionalität ist stark gestiegen, die Fitness spielt heute eine entscheidende Rolle. Auch der allgemeine Umgang mit der Gesundheit. Die Spieler ernähren sich teils vegan oder vegetarisch, achten auf Unverträglichkeiten und schauen, wo sie noch an dem einen oder anderen Rädchen drehen können. Auch die manuelle Faszientherapie und die Osteopathie nehmen eine große Rolle ein. Früher bestand die Therapie im Wesentlichen aus Massagetechniken. Heute lässt sich im Nationalteam noch maximal ein Drittel der Spieler massieren.

Das heißt, es haben sich in den 26 Jahren auch Ihre Methoden geändert.
Ja. Auch weil sich natürlich das Spiel verändert hat – dieses Hochgeschwindigkeits-Kontaktspiel, das wir heute im Fußball kennen, gibt es ja erst seit maximal 20 Jahren. Damit hat sich auch das Anforderungsprofil für die Spieler, auch durch die ganz spezifischen Belastungen, verändert – übrigens auch beim Torwart, der jetzt schon mal 5 km in einem Spiel läuft. Im Mittelfeld kommen die Spieler pro Partie auf 15 oder 16 km. Pro Spiel gibt es außerdem 1200 bis 1500 Richtungswechsel. Man hat Sprints, Sprünge, Rückwärtslaufen, lange Läufe, Zweikämpfe – da muss ein hoher athletischer Reflex in alle Richtungen entwickelt werden. Schnelligkeit und Athletik sind deutlich gestiegen.

Hat sich auch Ihre Ausrüstung verändert?
Ja. Die Trainingslager sind immer mit einem hohen Materialaufwand verbunden. Kleingeräte aus dem Kraftraum wie Hanteln, Faszienrollen, Bänder, Fahrräder oder Behandlungsliegen werden mittransportiert. Dadurch gibt es bei Turnieren oder Trainingslagern immer ein bis zwei Tonnen Physio-Gepäck.

Was ist das Besondere an der Sport-Physiotherapie im Profibereich?
Was man hier lernt, ist, jemanden schnellstmöglich wieder einsatzbereit zu machen. Das fängt schon mit der Diagnostik an: Als Kreisliga-Kicker bekommt man vielleicht in vier Wochen einen Termin zum Kernspin. Bei der Nationalmannschaft klappt das innerhalb einer Stunde. Dazu kommt noch die Primärbehandlung auf dem Platz innerhalb von maximal zwei Minuten. Das sind ganz andere Voraussetzungen, die dann zu einer schnelleren Regeneration führen können. Außerdem werden bei der Nationalmannschaft die Kicker vor dem Training oder einem Spiel kurz gecheckt und eingestellt. Da wird geschaut, ob von der Beweglichkeit und der Symmetrie alles passt. Also ein präventiver Check-up, bevor es auf die Piste geht.

Was können Sie Amateurvereinen bei der Primärbehandlung auf dem Platz raten? Gilt noch die PECH-Regel, also Pause, Eis, Kompression und Hochstellung?
Vor allem Druck ist gleich nach der Verletzung wichtig. Bei einem Faserriss gilt es z. B. zu vermeiden, dass sich Blut im Muskel sammelt. Das führt zu langen Heilungszeiten, bis es wieder abtransportiert ist. Mit angelegtem Verband ist Hochlegen nicht zwingend – aber sinnvoll, wenn man nach dem Spiel mehrere Stunden im Bus sitzt. Bei differenzierten Akutmaßnahmen sprechen wir im professionellen Bereich heute von PEACE (Protection, Elevate, Avoid, Compression, Educate) und LOVE (Load, Optimism, Vascularisation, Exercise).

Im Profifußball hatten Sie es ja auch mit Alphatieren und Diven zu tun. Fällt da die Arbeit immer leicht?
Manche Persönlichkeiten sind natürlich schwieriger als andere. Und manche kommen nicht nur einmal am Tag zu uns, sondern wollen auch mehrmals behandelt werden. Dabei geht’s dann auch um die kleinen Wehwehchen – wie halt bei anderen Patienten auch. Aber auch damit sollte man auf jeden Fall seriös umgehen.

Da wird man ja fast schon Psychologe …
Man muss zumindest die Dinge geschickt angehen. Zu sagen «stell dich nicht so an», ist keine meiner Optionen. Und ich beschäftige mich immer ernsthaft und ehrlich mit den an mich herangetragenen Pro­blemen. Wenn sich ein Spieler Sorgen macht, will er auch einfach nur von mir hören, dass alles okay ist. Bei dieser Aussage darf man als Physiotherapeut jedoch nicht leichtsinnig sein. Wenn da etwas schiefgeht, wäre das katastrophal.

Sie sprechen mit den Spielern auch über andere Dinge als über ihre Verletzungen?
Klar, wir arbeiten in einem sehr nahen Vertrauensverhältnis, da erkenne ich auch schnell die Ent­täuschung, wenn ein Spieler bei einem Turnier nicht zum Einsatz kommt. Die Nummer eins im Verein ist
in der Nationalmannschaft vielleicht nur die Nummer zwölf … Unsere Aufgabe ist es immer, positiv zu sein, die Jungs an der richtigen Stelle zu packen und sie wieder aufzurichten, wenn sie ein Problem haben. Als Physio darf man daher auch nicht einfach seine eigene Laune durch die Gegend tragen.

Sie waren auch in anderen Sportarten tätig. Gibt es Unterschiede?
Natürlich. Sportler können sehr sensibel sein … Handball oder Rugby sind z. B. besondere Disziplinen. Dort grenzt die Schmerztoleranz der Spieler fast schon an Selbstzerstörung (lacht). Wenn man sich beim Fußball einen Musiala, einen Wirtz oder Özil anschaut, sind das Filigrankünstler und geniale Fußballer! Und sie sind extrem sensibel, haben möglicherweise schneller eine Grenze erreicht, wenn es um Schmerzen geht. Die Innenverteidiger sind da wieder aus anderem Holz geschnitzt. «Die Künstler muss man machen lassen», hat Jogi Löw immer gesagt. Wenn die ab und zu ein bisschen jammern, dann gehört das zu deren Charakter dazu. Das sind keine Spieler fürs Grobe. Deswegen muss man sie in der Behandlung auch dementsprechend anpacken.

Ende der 90er-Jahre betreuten Sie auch die Fußballer des SSV Ulm …
Ja, insgesamt für drei Jahre, als der Verein in der 1. Liga spielte und noch etwas danach. Das war eine sehr spannende und euphorische Zeit, aber auch eine schwierige, weil die medizinische und physiotherapeutische Organisation, die Abläufe, wie man mit Spielern und Reha umging, der sportlichen Entwicklung noch hinterherhinkten. Es mussten erst professionelle Strukturen wachsen. Es fehlte an Geld und Personal.

Wie schauen Sie eigentlich so ein Fußballspiel im Fernsehen an? Fiebern Sie da bei jeder Grätsche?
Da bin ich dann überraschend entspannt. Ich schaue mir das gern an, freue mich über ein gutes Spiel. Zurzeit macht’s wieder richtig Spaß. Über die TV-Kameras sieht man manches eben besser. Im Stadion war ich schon wesentlich mehr unter Spannung. Ich bin niemand, der bei jeder Szene sofort aufspringt, wenn aber ein Tor für uns gefallen ist, dann wird gejubelt und man freut sich mit allen auf der Bank. Ein schönes Gefühl, wenn man am Ende gewinnt.

Haben Sie ein Lieblingsstadion?
International: der Hampden Park in Schottland. Die Stimmung dort ist einzigartig – wenn ich daran denke, wie wir dort gespielt haben, kriege ich heute noch eine Gänsehaut. |