Von Christian Kern
E-Sport
Vom Platz auf die Konsole
| Der Mann, den es seit vergangenem Jahr doppelt gibt, manövriert seinen Wagen durch die Ulmer Innenstadt. Er versucht einen Parkplatz zu finden. Draußen reihen sich die Autos wie eine Abwehrkette aneinander. Drinnen im Wagen geht es um seinen virtuellen Doppelgänger. «Das ist schon cool», sagt Bastian Allgeier. Der 22-Jährige weiß, dass nicht jeder Fußballer so was bekommt. Den Doppelgänger muss man sich verdienen.
Wie Allgeier das gemacht hat, ist sehr gut dokumentiert. Es gibt im Internet Hunderte Videos dazu. Sie zeigen Fußballer mit Freudentränen, Fans auf dem Spielfeld und eine Stadt in schwarz-weißer Euphorie. 20. Mai 2023: Der SSV Ulm 1846 Fußball hat es geschafft. Regionalliga-Meister. Endlich Profifußball. Endlich 3. Liga. Und damit endlich auf der Konsole. Die Spatzen sind nun in der weltbekannten Fußball-Simulation EA Sports FC 24 (ehemals Fifa) vertreten. Fans können die Ulmer zur virtuellen Meisterschaft führen. Oder mit ihren Lieblingsspielern online gegen andere Zocker antreten.
Dafür gibt es einen eigenen Modus: Ultimate Team ist eine Mischung aus Panini-Album und Fußballmanager. Entwickler Electronic Arts (EA) macht aus knapp 19 000 Fußballprofis virtuelle Sammelkarten, mit denen die Nutzer ihr Team zusammenstellen. Die Karten kommen aus digitalen Packs, die EA anbietet, oder von einem riesigen Markt, auf dem die FC-24-Nutzer Karten kaufen und verkaufen.
Benchmark der Fähigkeiten
Dort ist Bastian Allgeier allerdings nicht gerade begehrt. 200 FC-24-Münzen (etwa 1 Cent) kostet der Rechtsverteidiger des SSV. Billiger geht es nicht. Der gebürtige Badener kann sich denken, woran das liegt. Er kennt seine Spielerkarte. Sie ist wie ein großes Zeugnis für den jungen Profi. Schnelligkeit, Verteidigung, Pass – EA bewertet fast alles. Allgeiers Gesamtergebnis: 61 von 99 möglichen Stärkepunkten. Nicht schlecht, aber kein Vergleich zu den Superstars Kylian Mbappé (91), Erling Haaland (91) oder Harry Kane (90). Das stört Allgeier nicht – jedoch einige seiner Einzelwerte. 67 Punkte bei Geschwindigkeit? Zu wenig! «Ich bin schließlich mit der Schnellste in der Mannschaft.» Und dann diese Schuss-Bewertung. Die ist besonders fies. Allgeier hat den genauen Wert im Kopf: 27. So schlecht sei der Schuss nicht … 27 ist ja vergleichbar mit einer 4–5 in der Schule. Wenn überhaupt. Das muss man dem Ulm-Profi nicht sagen, schließlich saß er früher selbst mit seinen Freunden an der Konsole. Und diese jahrelange Routine hinterlässt ihre Spuren. Fragt man SSV-Kapitän Jo Reichert nach dem besten FC-24-Spieler im Team, bekommt man eine klare Antwort: Bastian Allgeier.
Der hingegen ist sich da gar nicht so sicher. Andere Mitspieler seien vor dem Bildschirm auch sehr stark, sagt Allgeier. Torwart Marvin Seybold (FC-24-Gesamtstärke: 55) beispielsweise. Oder Stürmer Felix Higl (62). Und er? «Ich habe ein bisschen Talent.» Der junge Mann zeigt sich bescheiden. Es ist wie im realen Fußball: Jemand mit mehr Talent lässt sich immer finden.
Auf dem Platz und an der Konsole
Dieser Jemand wohnt beispielweise im Schwarzwald, trägt einen SC-Freiburg-Pullover und heißt Fabian Hackenbruch. Beziehungsweise Fabi_SCF 1904. Das ist so etwas wie sein Arbeitsname. Unter diesem Pseudonym spielt der 22-Jährige seine Gegner auf der Playstation regelmäßig schwindelig. Hackenbruch ist professioneller Zocker. Der Schwarzwälder gehört zum E-Sports-Team des SC Freiburg. Ein Team, das eigentlich gar nicht existieren sollte. «Ohne die neue Regelung hätte es beim Sport-Club keinen Einstieg in den E-Sport gegeben», sagte Sprecher Holger Rehm-Engel im Sommer dem «Kicker». Die Regelung, die er meinte, kam von der DFL. Sie forderte alle Clubs dazu auf, ein E-Sports-Team zu gründen, drohte sogar mit Sanktionen. Also machte auch Freiburg mit.
«Nichtsdestotrotz sind wir das Projekt von Anfang an mit einer eigenen Idee und durchaus ambitioniert angegangen, weil wir unseren Verein nicht nur sportlich würdig vertreten, sondern auch ein sympathisches Aushängeschild sein möchten», sagt Teamleiter Konstantin Sarantidis. Also ging man in Freiburg einen «eigenen Weg»: mit jungen Spielern aus der Region, die alle SC-Fans sind, charakterlich zum Verein passen und selbst kicken. Auch Hackenbruch steht auf dem Fußballplatz – beim Dorfclub SV Niedereschach in der Kreisliga. Das hilft ihm an der Konsole, sagt er. «Leute, die im realen Leben spielen, können das in das Videospiel integrieren.» Seine Position: zentrales Mittelfeld. Hackenbruch muss das Spiel lesen. Genau wie in EA Sports FC. Dort vertritt er den SC II in der virtuellen 3. Liga. 13 Teams sind hier dabei, der DFB veranstaltet die Spieltage. Damit die Chancen trotz aller körperlicher Unterschiede ähnlich hoch sind, haben alle Profis auf dem virtuellen Rasen eine einheitliche Gesamtstärke von 95. Eine absolute Ausnahme. Normalerweise sind die Akteure weit von diesem Wert entfernt.
Virtuelle Duelle
Bei den Drittliga-Kadern in Ultimate Team haben die meisten Spieler maximal 64 Stärkepunkte, Bronze – die Farbe der schwächsten Sammelkarten – dominiert. Sie ist die Standard-Kategorie in den unteren der insgesamt 30 Ligen, die im Spiel vertreten sind. Es gibt aber Ausnahmen. Wie Rouwen Hennings vom SV Sandhausen. EA hält den Ex-Bundesligastürmer für einen der besten Spieler der Spielklasse. Das Unternehmen gab ihm eine Gesamtstärke von 70 – und eine spezielle Kontur für seine Karte. Und auch sonst scheinen die Entwickler viel vom nordbadischen Dorfclub zu halten. Ganze elf Profis liegen über der 64er-Marke. Promi-Kicker Dennis Diekmeier kommt auf 69. Teamkollege Sebastian Stolze auf 68, dazu glänzt der Außenspieler mit seinem Geschwindigkeitswert. 79 Punkte, ein stolzes Ergebnis.
Es geht aber noch schneller. Und zwar so schnell, dass selbst Top-Stars nicht mehr mithalten. Lionel Messi gegen Kelvin Arase – im virtuellen Sprintduell hat der argentinische Weltfußballer keine Chance gegen den Neuzugang von Waldhof Mannheim. Der 25-Jährige ist das Aushängeschild des Clubs. 84 Geschwindigkeit, 67 Gesamtstärke. Eine Silber-Karte – die mittlere Kategorie im Spiel. Die Mannheimer haben ein paar von diesen Karten. Dazu zählen Kapitän Marcel Seegert (68) und die Mittelfeldspieler Fridolin Wagner (67) und Bentley Baxter Bahn (66).
Solide. Aber keine Option für SC-Gamer Hackenbruch. Er kontrolliert bei seinen Matches nur die Spieler aus Freiburgs Nachwuchsmannschaft. Seine Favoriten: Maximilian Breuning und Hamadi Al-Ghaddioui. Groß gewachsene Stürmer – die seien im diesjährigen Videospiel besonders stark. Hackenbruch muss so was wissen. Das ist sein Job.
E-Sport ist auch Detektivarbeit
Wo hat das Spiel Schwächen? Welche Mechaniken lassen sich ausnutzen? Solche Fragen bespricht Hackenbruch regelmäßig mit seinen Teamkollegen. Die Männer treffen sich jeden Montag zum Training auf dem SC-Gelände. Manchmal analysieren sie Partien aus der Vorwoche. Manchmal zocken sie aber auch nur gemeinsam. «Ich habe hier viele Freunde gefunden», sagt Hackenbruch. «Natürlich gehört Ernsthaftigkeit und Professionalität dazu. Am wichtigsten ist aber, dass der Spaß im Vordergrund steht.»
Spaß? Beim Zocken? Kann sich Thomas Wörle nicht wirklich vorstellen. Der Trainer des SSV Ulm 1846 Fußball hat zwar ein paar Mal bei seinem Sohn zugeschaut. Da hat es ihn aber nie gereizt, den Controller selbst in die Hand zu nehmen. Der 42-Jährige schaut anders auf das Videospiel. Pragmatischer. «Das ist eine tolle Geschichte, die uns bei der Repräsentation hilft – vielleicht kommt so der ein oder andere mehr ins Donaustadion …» Beispielsweise, um diesen Bronze-Rechtsverteidiger Bastian Allgeier endlich mal in der Realität zu erleben. Der 22-Jährige hat FC 24 selbst zu Hause liegen. Er zockte es für ein paar Wochen. Dann legte er den Controller weg. Eine bewusste Entscheidung. «Mein voller Fokus liegt momentan auf meiner realen Karriere.» Bei der 61er-Gesamtbewertung soll es schließlich nicht bleiben. |